Anfang der Neunzigerjahre. Ein verdunkelter Saal; – ich gehe leise hinein, bleibe stehen und blicke hinauf auf eine große Leinwand. Als Erstes sehe die Rückseite von einer zierlichen Dame, die sich ganz langsam Schritt für Schritt im Rückwärtsgang bewegt. Diese zierliche Dame wiegt sich ein wenig nach links und rechts ganz im Einklang mit der alten Frau, die ein wenig schwankend vorwärts geht und sich ihr genau gegenüber befindet. Langsam kommen die Beiden näher. Alles passiert in dem Rhythmus, den die alte Frau vorgibt. Sie hat einen suchenden Blick; wirkt verloren und etwas unruhig. Es sieht so aus, als ob sie auf der Suche ist nach irgendetwas. Man hört von ihr einige kurze Klagelaute und auch mehrere unverständliche Silben.
Die zierliche Dame wiederholt zwischendurch einzelne der Äußerungen in einem ähnlichen Tonfall. Nach und nach verstärkt sich der Kontakt. Die Beiden haben jetzt einen guten Augenkontakt. Ab und zu klatscht die alte Frau in die Hände und dieses Klatschen wiederholt die zierliche Dame sofort; – es entsteht so etwas wie ein nonverbales „Klatsch-Ping-Pong“ zwischen den Beiden. Dann streicht die zierliche Dame die alte Frau einige Male oben über den Kopf mit einer Haarbürste und spricht sie kurz an in Frageform. Zum Schluss stellt sie Fragen zur Mutter der alten Frau. Ob sie an sie denkt? – ob sie sie vermisst? Die alte Frau wird zunehmend aufmerksamer, richtet sich etwas auf und antwortet mit einem langen, verständlichen Satz: „Meine Mutter war die schönste Frau in ganz New York.“ – Ich war total verblüfft. Erstens über die vielen zusammenhängenden Wörter in einer klar verständlichen Sprache, aber vor allem darüber mit welcher Freude und Stolz die alte Frau diesen langen Satz gesagt hatte. Sie war scheinbar bei ihrer Suche „angekommen“ und wirkte jetzt glücklich und zufrieden. Unfassbar! – Was war da passiert? Jetzt konnte ich endlich das freundliche Gesicht von der zierlichen Dame sehen; das war Naomi, die die alte Frau Kessler in ganz einzigartiger Weise validiert und die meiste Zeit gespiegelt hatte. Ich hatte gerade die letzten 5-6 Minuten von einem der vielen wundbaren Videos von Ed Feil gesehen. Diese wenigen Minuten haben mein Leben verändert. Aber das wusste ich damals noch nicht. – Bis dahin hatte ich noch nie einen Menschen erlebt, dem es gelingt sich so vollkommen im Einklang mit einer alten, desorientierten Person zu begeben. Es wirkte auf mich wie ein Schlüssel für mehr Wohlbehagen und Lebensqualität für alte Menschen. Ohne zu wissen, dass es sich hier um die erlernbare Methode Validation nach Feil handelt, dachte ich sofort: DAS möchte ich auch lernen! – Am Ende der Veranstaltung ging ich dann zu der jungen Frau hin, die diesen Film mitgebracht hatte. Das war Vicki de-Klerk, die Tochter von Naomi Feil. Vicki hat sich Zeit genommen für mich und hat mir einige sehr wertvolle Tipps gegeben.
– Zu diesem Zeitpunkt war ich auf der Suche nach Hilfe. Ich brauchte einen Rat, wie ich den Kontakt verbessern könnte zu einer alten Klientin, die in einer psychiatrischen Einrichtung einem Sessel saß und stundenlang mit dem Oberkörper vor und zück wippte und dabei ganz leise „ma-ma-ma-ma“ sagte. Ihre Augen waren zwar offen, aber ihr Blick war nicht zielgerichtet. Sie sah ins Leere. Es war mir bisher nicht gelungen festzustellen, ob sie überhaupt bemerkt hatte, dass ich sie regelmäßig besuchte. Alle Sessel waren entlang der Wand aufgestellt. Jede Woche saß ich ca. eine Stunde lang ganz dicht neben ihr und berührte sie sanft an den Schultern und am Rücken. Zwischendurch habe ich ihr etwas vorgesungen, aber sie reagierte nicht. Bei der Begrüßung und Verabschiedung habe ich versucht ihr die Hand zu geben, aber das war mehr eine Formsache und ging auch nicht gut. Sie sah mich nicht an.
Aber nachdem ich die Tipps von Vicki in die Praxis ungesetzt hatte gelang es mir recht bald einen guten Kontakt zu meiner Klientin herzustellen, was mich natürlich sehr gefreut hat. Kurz vor ihrem Tod lag sie im Bett als ich ins Zimmer hineinkam. Sie sah mich ganz gezielt an und sagte erfreut: „Gut dass du kommst; – ich war gerade in Paris“. Ich war überrascht! Dann bin ich mit „dem inneren Auge“ in ganz kurzen Sätzen gemeinsam mit ihr entlang der Seine spazieren gegangen; wir entdeckten das Glitzern im Wasser; weiter hinten waren die großen Türme von Notre Dame. Irgendwie spürten wir dabei ein wenig Wärme von der Sonne auf unserem Rücken; – es war ein feines Erlebnis. – Bald darauf ist sie gestorben. Als ich einige Jahre später selber in Paris war, habe ich an sie gedacht.
Es hat allerdings mehrere Jahre gedauert alle Ausbildungen in Validation zu machen. Später hat es mir sehr viel Freude gemacht Validation zu unterrichten.